Mut zur Lücke - ein Einblick in die Grundlagenforschung

18. September 2020
Vor der Entwicklung einer neuen Anwendung oder eines neuen Produkts steht oft die Grundlagenforschung. Die frühere FHI-Doktorandin Kristin Werner erzählt von den vielen Biegungen und Wendungen dieser Arbeit. Und davon, wie man eine seltene Form des Wasserstoffs im vielversprechenden Material Ceroxid ausfindig machen kann. Der Schlüssel zu allem, versichert sie, ist Emmentaler Käse.

Es ist 23 Uhr. Aus von Müdigkeit geröteten Augen schaue ich auf ein Display, das im 20-Sekunden-Takt neue Datenpunkte ausspuckt. Ein langer Tag liegt hinter mir und meinen Kolleg*innen, voller Reparaturen, Probenvorbereitungen und kurzen Ausflügen zum Campus-Kiosk, wo wir uns mit Kaffeedrinks für unsere langen Schichten eindecken. Für einen Forschungsaufenthalt sind wir im Ionenbeschleuniger-Labor der Universität Tokio. Also nicht im Beschleuniger selbst, natürlich, denn wir dürfen nur in den Kontrollraum. Die Strahlung, die unser Experiment gerade jenseits der rosafarbenen Bleiwände produziert, wäre absolut gesundheitsgefährdend für uns. Hierhergeführt hat uns die Suche nach dem kleinsten aller Atome: Wasserstoff. Das häufigste Element unseres Universums ist so winzig, dass es mit konventionellen Methoden nur schwer nachzuweisen ist. In Tokio nutzen wir eine besondere Form der Kernfusion, um herauszufinden, ob Wasserstoff im Material Ceroxid (sprich: „Zer-Oxid“) gespeichert werden kann.

Warum - das wissen wir selbst noch nicht genau. Im Gegensatz zur angewandten Forschung, an deren Ende die Entwicklung eines neuen Produkts oder Prozesses steht, befinden wir uns ganz am Anfang. Wir betreiben Grundlagenforschung. Denn auch wenn ein Blick in gängige Lehrbücher das Gegenteil vermuten lässt - auf der Ebene der Atome wissen wir längst nicht alles über die Welt, die uns umgibt. Wir wollen herausfinden, ob Wasserstoff im Feststoff Ceroxid gespeichert werden kann, weil diese Erkenntnis den Grundstein für Anwendungen der Zukunft legen könnte, und zwar überall, wo Wasserstoff eingesetzt wird, von der Medikamentenherstellung bis zu neuen Fahrzeugantrieben.

Ein molekularer Schwamm macht unsere Luft sauberer – speichert er auch Wasserstoff?

Was wir wissen: Ceroxid kann Sauerstoff speichern. Selbst aufgebaut aus zwei Teilen Sauerstoff und einem Teil des Metalls Cer, ist der Feststoff ein Material mit erstaunlichen Fähigkeiten. Wird Ceroxid auf hohe Temperaturen geheizt, so gibt es bereitwillig Sauerstoffatome aus seinem Atomgitter an die Umgebung ab, ohne dabei seine Form zu verändern. Zurück bleiben Leerstellen – also kleinste Lücken im Material, wie in einem Schwamm. Für seine Großzügigkeit im Umgang mit Sauerstoff ist Ceroxid als Hilfsmaterial in vielen Reaktionen beliebt. So findet es sich beispielsweise in fast jedem Auto, wo es sicherstellt, dass genug Sauerstoff vorhanden ist, damit im Autokatalysator giftige Abgase in ungiftige Auspuffgase verwandelt werden können.

Während diese Superkraft von Ceroxid gut erforscht ist, wissen wir wenig über seine Interaktion mit anderen Stoffen. Wäre es möglich, dass es wie ein Schwamm auch Wasserstoff speichern kann? Falls dem so ist, würde das neue Türen öffnen: In einer Reaktion, in der Wasserstoff gebraucht wird, könnte Ceroxid erst Wasserstoff aufnehmen und dann bei Bedarf wieder abgeben. Zwischenschritte wie das Zu- und Abführen von Wasserstoffgas würden damit wegfallen, und die entsprechenden industriellen Prozesse könnten energie- und ressourcenschonender ablaufen.

Einen wesentlichen Hinweis auf eine besondere Wechselwirkung gibt es bereits. Ein Forscherteam der ETH Zürich berichtet 2012, dass Ceroxid das Hinzufügen von Wasserstoffatomen an kleine organische Moleküle um ein erstaunliches Maß erleichtert. Was ist dran am besonderen Verhältnis von Wasserstoff und Ceroxid?

Eine unerwartete Mona Lisa

Zur Beantwortung dieser Frage führen wir eine Analyse durch, die sich der Kernfusion bedient. Dafür brauchen wir besondere technische Ausrüstung, die neben dem Labor in Tokio nur wenige andere Forschungseinrichtungen weltweit bereitstellen. Allen voran ist ein Versuchsaufbau nötig, der Ionen auf extrem hohe Energien beschleunigen kann. Mit der Geschwindigkeit, welche die Ionen dabei erreichen, würden sie die Wegstrecke von Tokio nach Berlin, zu meinem Schreibtisch am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, in unter drei Sekunden zurücklegen.

Trifft eins dieser schnellen Ionen nun auf ein Wasserstoffatom, verschmelzen beide zu einem neuen Atomkern. Dieser zerfällt sofort in kleinere Bestandteile und setzt dabei Gamma-Strahlen frei, die so viel Energie haben, dass sie mühelos Granit durchdringen würden. Nur Bleiwände halten die hochenergetische Strahlung auf. Hinter solchen, im Kontrollraum des Labors, verrät uns die Menge der Strahlung, wie viel Wasserstoff in einer Probe vorhanden ist. In ihrer großen Genauigkeit ist die Methode dabei so außergewöhnlich, dass Markus Wilde, Professor für Physikalische Chemie an der Universität Tokio, sie (in Anlehnung an einen Ausspruch ihres Erfinders, Georges Amsel) liebevoll die „Mona Lisa der Analysemethoden“ nennt.

Doch nicht nur das Experiment, auch die Probe ist außergewöhnlich: Sie ist nahezu perfekt. Wo natürliche Feststoffe aus einer chaotischen Landschaft von Ecken, Kanten, Kratern und Hügeln bestehen, ist unsere Ceroxid-Oberfläche flach und geordnet. Jedes Atom ist an seinem angestammten Platz, damit wir unverfälschte Rückschlüsse auf die Position möglicher Wasserstoffvorkommen ziehen können. Damit die perfekte Oberfläche sauber bleibt, befindet sie sich in luftleerem Raum. Dafür ist ein enormer technischer Aufwand nötig. Unsere Probe, gerade etwa halb so groß wie eine 1-Cent-Münze, befindet sich in einem zwei Meter hohen Stahlkoloss, aus dem zahlreiche Pumpen rund um die Uhr jegliche Gase entfernen. Der Aufwand zahlt sich aus: Um unsere Probe befinden sich gerade mal so wenige Moleküle, wie im leeren Weltraum außerhalb der internationalen Raumstation ISS anzutreffen wären.

Wasserstoff speichern - im kleinsten Emmentaler Käse der Welt

Um nun etwas über die Speichereigenschaften von Ceroxid zu erfahren, versetzen wir dieses mit Wasserstoffmolekülen, die aus jeweils zwei Wasserstoffatomen aufgebaut und in der Regel sehr unwillig sind, chemische Bindungen einzugehen. Der Grund dafür ist die starke Bindung zwischen den beiden Atomen – im Grundzustand sind sie so eng verbunden, dass sie kein Interesse haben, mit anderen Stoffen zu reagieren. Um Wasserstoffatome zu speichern, muss Ceroxid es schaffen, eine noch stärkere Bindung zu den einzelnen Atomen aufzubauen und damit das Molekül zu spalten. Schafft das die Ceroxid-Probe nicht, ist eine Speicherung nicht möglich. Genau das erfahren wir schmerzlich in den ersten Wochen unserer Versuche. Nur in Ausnahmefällen schafft es die Ceroxid-Oberfläche, Wasserstoff zu binden. Das Oxid ist einfach nicht reaktiv genug.

Was tun? Das träge Ceroxid aktivieren, Platz schaffen! Durch Heizen lösen wir Sauerstoff aus dem Atomgitter und schaffen so winzigste Lücken im Material. Nach der Hitzebehandlung sieht unsere Probe – auf mikroskopischer Ebene – wie ein preisverdächtiger Emmentaler Käse aus. Außerdem hat sie eine weitere Besonderheit, deren fundamentale Bedeutung sich später noch herausstellen wird: Beim Verlassen des Materials haben die Sauerstoffatome reaktionsfreudige Elektronen rund um die Löcher zurückgelassen.

Nach einigen Anläufen, am letzten Tag unseres Forschungsaufenthalts, führen wir schließlich das entscheidende Experiment durch. Und tatsächlich - als wir die löchrige Ceroxid-Probe mit Wasserstoff behandeln, zeigt sich Erstaunliches. Unsere Analyse spürt Wasserstoff nicht nur auf der Oberfläche, sondern auch in den Tiefen des Ceroxids auf. Also doch – Ceroxid kann Wasserstoff speichern! Wir atmen auf. Das wochenlange Experimentieren hat sich ausgezahlt.

Was passiert im Innersten? Computer-Experimente am digitalen Zwilling

Eine Erklärung darüber, was dabei im Innern des Ceroxids geschieht, liefern unsere Kollegen vom Team um Prof. Joachim Sauer an der Humboldt-Universität zu Berlin. In aufwendigen Simulationen bauen die Quantenchemiker unsere Ceroxid-Probe am Computer nach - mit und ohne Sauerstofflöcher - und berechnen die Stabilität des Wasserstoffs in dieser digitalen Kopie. Eine solche Zusammenarbeit zwischen Experiment und Theorie ist mittlerweile Standard, wenn neue Reaktionsmechanismen in der Chemie formuliert werden sollen. Bald wird klar: Möglich wird das Speichern von Wasserstoff in Ceroxid nur durch die reaktionsfreudigen Elektronen, welche die Sauerstofflücken bereithalten.

Elektronen sind die eigentlichen Antriebsmittel der Chemie. Sie gehen von einem Atom aufs nächste über, wenn Kochsalz aus den Elementen Natrium und Chlor gebildet wird. Elektronen sorgen dafür, dass Atome sich aneinanderbinden und zu Molekülen werden – wie ein atomarer Kleber, der die kleinsten Bausteine des Lebens verbindet. Elektronen stecken hinter der Photosynthese der Grünpflanzen auf der Fensterbank, der Explosion von Feuerwerksraketen - und eben auch hinter der Speicherung des Wasserstoffs in Ceroxid. Meine weiteren Experimente, zurück in Berlin, bestätigen ihre wichtige Rolle: Wasserstoff stibitzt sich die Elektronen, welche der Sauerstoff zuvor in den Lücken im Ceroxid zurückgelassen hat. Die elektronenreiche Form des Wasserstoffs, die dabei entsteht – ein Hydrid – ist besonders reaktionsfreudig und nur selten anderswo anzutreffen. Tatsächlich kommt diese Form des Wasserstoffs so selten vor, dass wir sie bisher kaum in industriellen Prozessen nutzen können. Unsere Entdeckung der Speichereigenschaften von Ceroxid könnte das ändern.

Wie geht es weiter? Von der Grundlagen- in die Angewandte Forschung

In Zukunft könnte dieses Hydrid nämlich durchaus zur Anwendung kommen. Vorstellbar ist beispielsweise eine Verwendung des preisgünstigen, leichten Ceroxids als Zwischenspeicher für Wasserstoff in Brennstoffzellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das vor allem Spekulation – welche Entwicklungen die neu gefundene Superkraft von Ceroxid möglich machen wird, wird sich zeigen, wenn die angewandte Forschung den Staffelstab übernimmt.

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